Tag 20: Zero Day in Bielsa
Ich wachte auf und fühlte mich nicht signifikant besser verglichen mit dem Tag zuvor. Da in meinem Hostel allerdings kein Zimmer für eine weitere Nacht frei war, musste ich auschecken und mir eine neue Bleibe suchen. Schnell wurde ich fündig: das „günstigste“, jedoch nicht gerade erschwinglichste Hotel lag nur zwei Straßen entfernt.
Ich ging einkaufen, um mich mit Nahrung zu versorgen, dann setzte ich mich in das zu meinem Hotel gehörenden Café und wartete, bis mein Zimmer für den Check-in bereit war. Ich las ein wenig in der Autobiografie des schottisch-US-amerikanischen Natuarphilosophs John Muir und vergaß, dass ich eine Tasse Kaffee bestellt hatte – er schmeckte auch kalt.
Um 13:00 Uhr konnte ich einchecken und verbrachte den restlichen Tag im Hotel. Ich wusch meine Kleidung, telefonierte mit Freunden und informierte meine Familie über den gesundheitlichen Status-quo. Noch immer fühlte ich mich schwach, doch meine Übelkeit nahm langsam ab. Ich konnte zwar noch nicht mehr essen als ein paar Pflaumen und Joghurt, doch allein das war schon eine Steigerung.
Am Abend bekam ich Halsschmerzen und einen starken Hustenreiz, der mich nicht so recht einschlafen lassen wollte.
Tag 21: von Bielsa nach Viadós
Als ich aufwachte, war es 5:30 Uhr und ich verspürte zum ersten Mal seit langem Hunger. Ich aß zwei Tortillas mit Nutella und beschloss, dass ich heute weiter wandern würde. Das ungute Kratzen im Hals würde mich zwar noch ein paar Tage begleiten, doch ich wollte wenigstens versuchen, mich wieder auf Wanderschaft zu begeben. Also packte ich den Rucksack, verließ das Hotel und machte mich auf den Weg zur Hauptstraße. Von hier aus versuchte ich per Anhalter nach Parzan zu fahren, denn der GR11 führte nicht direkt durch Bielsa und ich wollte die zusätzlichen und weniger schönen Kilometer auf der Straße vermeiden. Da die Spanier allerdings nicht gerade die frühsten Vögel sind, war kaum ein Auto unterwegs, dass mich hätte mitnehmen können. Nachdem ich ungefähr eine halbe Stunde erfolglos gewartet hatte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg.
Nach ungefähr 45 Minuten erreichte ich Parzan. Als ich auf der Hauptstraße in den Ort hineinspazierte, winkte mir jemand aus der Ferne: Mi Ra, Floor, Jean Marc und Josh saßen auf der Treppe vor dem Supermarkt. Überglücklich, bekannte Gesichter zu sehen, unterhielt ich mich mit ihnen und wir erzählten einander über die letzten paar Tage. Kurze Zeit später wanderten wir alle gemeinsam in Richtung Viadós.
Ausgehend von Parzan begann der heutige Tag mit einem vierstündigen Aufstieg (1300 hm) über eine leicht begehbare Schotterstraße. Jean-Marc und ich wanderten vorne und fanden heraus, dass wir einige gemeinsame Interessen besaßen: er arbeitete auf einer Permakultur Farm! Ich erzählte ihm von meiner Zeit in Washington und wir tauschten uns ein wenig aus. Später machten wir eine kurze Pause im Schatten und warteten auf die anderen. Ich fühlte mich erstaunlich gut, definitiv nicht 100% fit, aber verglichen mit den vorherigen Tagen um einiges besser.
Meine Euphorie hielt nicht besonders lange an. Wir wanderten weiter und ich fühlte mich plötzlich, als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt. Heute Morgen fühlte ich mich noch so fit und nun war ich all meiner Kraft beraubt. Ich wurde immer langsamer, Josh und Jean Marc überholten mich und ich musste schließlich eine Pause hinter dem Pass machen. Anscheinend hatte ich mich ein wenig übernommen, was meinem Körper aktuell überhaupt nicht gefiel. Zum Glück ging es von hier aus hauptsächlich bergab. Später überholte ich Josh wieder, der sein Zelt in der Sonne trocknete.
Ich konzentrierte mich die restlichen Stunden hauptsächlich aufs Wandern und schoss daher nicht so viele Fotos. Als ich nach acht Stunden einen Campingplatz erreichte, hielt ich an. Ich wollte keinen Schritt mehr gehen und beschloss heute hier zu übernachten. Jean Marc war bereits da und Josh, Floor und Mi Ra kamen schließlich auch an und beschlossen ebenfalls zu bleiben. Wir bauten die Zelte auf und setzten uns gemeinsam an einen Tisch vor dem Restaurant des Campingplatzes.
Wir hatten einen lustigen Abend gemeinsam, doch ich musste mich als erste verabschieden, um mich hinzulegen. Mein Magen war nicht so begeistert von der heutigen Wanderung und ich war unglaublich erschöpft.
Dennoch konnte ich nicht einschlafen. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, nur um festzustellen, dass mir morgen sehr viel Schlaf fehlen würde.
Tag 22: von Viadós nach Benasque
Um 4:30 Uhr wachte ich auf, weil ich stark husten musste und sehr hungrig war. Ganz leise angelte ich eine Packung Kekse aus meinem Rucksack und versuchte, Niemanden mit dem Geraschel der Packung aufzuwecken. Nachdem ich etwas gegessen hatte, legte ich mich für zwei weitere Stunden hin.
Um 6:30 Uhr stand ich schließlich auf, baute das Zelt ab und machte mich bereit um loszuwandern. Die anderen waren noch nicht wach, doch Jean Marc stand gerade auf, als ich gehen wollte. „Ich hoffe, ich habe dich nicht aufgeweckt.“ sagte ich, denn mein Zelt stand direkt neben seinem und mein Husten kann für ihn kaum überhörbar gewesen sein. „Alles gut, aber dein Husten war gestern noch nicht so schlimm, oder?“ erwiderte er. „Nein.“ sagte ich, und zwang mich zu einem Lächeln. „Doch das wird sicher bald wieder besser.“ fügte ich hinzu. Mehr um mich selbst zu überzeugen.
Ich verabschiedete mich und wanderte los. Den ganzen Vormittag ging es bergauf. Es war zwar wunderschön, doch mein Fokus lag eher darauf, irgendwie die heutige Etappe hinter mich zu bringen. Ich fragte mich, wann ich damit aufgehört hatte, meine Umgebung wertzuschätzen. Einst hatte mich jeder neue erklommene Pass mit Begeisterung erfüllt, jeder Tag hielt so viele Überraschungen bereit, die ich mit offenen Armen empfing. Ich war dankbar, wollte alles in mich aufsaugen und nie vergessen. Ich hatte die kleinen Dinge genossen, wie eine Pause mit schönem Ausblick oder einen Sprung in den See. Inzwischen war die Begeisterung einem anderen Gefühl gewichen. Wo ich mich doch sonst immer auf meinen Körper verlassen konnte, fürchtete ich mich jeden Morgen davor, abends nicht dort anzukommen, wo ich ankommen wollte. Mein Vertrauen in mich selbst schwand zunehmend und ich hielt nicht mehr an, um in den See zu springen. Ich wollte nur noch ankommen – irgendwo, wo ich sicher war. Jeder Tag wurde zu einer Aufgabe – etwas, das man einfach nur abarbeiten musste. Mir wurde klar, dass ich wieder gesund werden musste, um meine Freude am Wandern wiederzuerlangen.
Um 12:00 Uhr erreichte ich den höchsten Pass des Tages. Viele Wanderer hatten mich auf dem Aufstieg überholt, denn ich musste langsam gehen und immer wieder Pausen einlegen. Ich spürte, wie meine Fitness in keinem Vergleich zu vorher stand. Es war frustrierend.
Endlich ging es bergab. Nach einer Stunde erreichte ich das Refugio Estos und bestellte mir eine Coca-Cola. Vielleicht würden mir Zucker und Koffein ein wenig helfen, neue Energie zu schöpfen. Auch wenn ich keinen Appetit hatte, aß ich einen Tortilla Wrap mit Avocado und ein paar Chips. Anschließend trocknete ich noch mein T-Shirt und entspannte ein wenig in der Sonne.
Die letzten 10 Kilometer waren vergleichsweise einfaches Gehen auf einer Forststraße. Ich war überglücklich, als ich den Campingplatz erreichte, wo ich Karin und Almog traf. Er begrüßte mich mit offenen Armen und sagte, er wollte mich gerade anrufen. Zusammen fuhren wir per Anhalter nach Benasque und suchten uns ein Hotel.
Später stellte sich heraus, dass fast alle meine neuen Trail Freunde in Benasque waren. Ich traf Lea, Peter, Javier und Marie. Es war schön, all die bekannten Gesichter wiederzusehen. Wir würden zwar nicht mehr zusammen wandern können, da ich ein paar weitere Tage Pause machen würde, um meine Erkrankung ein für alle mal loszuwerden und wieder zu Kräften zu kommen, doch immerhin aßen wir gemeinsam zu Abend.
Außerdem teilten Karin und ich uns eine Waschmaschine im Waschsalon, was für ein Luxus! Ich wusch all meine Kleidung, also musste ich ein wenig kreativ werden mit dem, was noch übrig war.
Tag 23-25 Pause
Wie der Titel schon erahnen lässt, habe ich die letzten drei Tage keine Kilometer auf dem GR11 zurückgelegt. Meine Genesung wollte irgendwie nicht richtig in die Gänge kommen und ich beschloss so lange zu warten, bis ich wirklich wieder fit war. Ich verbrachte meine Zeit hauptsächlich im Hotel, las und nutze die Gelegenheit, meinen Rucksack neu zu organisieren und die kommenden Etappen zu planen.
Morgen früh möchte ich meine Wanderung fortzusetzen. Ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht und die kommenden Etappen geplant. Nachdem ich zunächst meiner Trail Family hinterher getrauert habe, bin ich nun zuversichtlich und freue mich, die nächsten Etappen alleine zu bestreiten. In Slovenien hatte mir genau diese Freiheit so gut gefallen – meine eigenen Entscheidungen über Distanzen und Länge meiner Tage fällen zu können. Manchmal war ich nach einer anspruchsvollen aber nur 15 Kilometer langen Etappe total erschöpft – na und, dann ruhe ich mich eben aus. Manchmal fühlte ich mich jedoch nach einer 25 Kilometer langen Etappe noch topfit – dann hänge ich noch eine dran. Die einzige Person, die diese Entscheidungen für mich fällen kann, bin ich. Und ich habe das Gefühl, meine Entscheidungen zuletzt von vielen anderen Faktoren abhängig gemacht zu haben, die meinem Wohlbefinden nicht gerade zuträglich waren. Ich fühlte mich ein wenig unter Druck gesetzt, mit den anderen mithalten zu müssen. Dabei handelte es sich allerdings nicht um einen von extern ausgeübten Druck, den habe ich mir ganz alleine gemacht. Letztendlich hat es mir nicht gut getan und ich habe meine Lektion gelernt: wenn es einem schlecht geht, sollte man gleich eine Pause einlegen, und nicht erst nachdem man weitere 60 km gewandert ist.
Daher freue ich mich, die nächsten Etappen alleine und in meinem eigenen Tempo in Angriff zu nehmen. Wie das nun einmal meistens so ist, kommt die Freude nicht ganz allein und wird von der altbekannten Angst begleitet, deren Wurzeln in der Ungewissheit liegen. Das Wetter in den hohen Pyrenäen unterscheidet sich stark von jenem an der Küste und beinhaltet meist tägliche Gewitter am Nachmittag. Gerade beobachte ich eines von ihnen aus meinem Hotelzimmer. Hier kann das ganz gemütlich sein, in einem Zelt auf 2000 Metern Höhe eher nicht.
Wenn ich an meine letzte Fernwanderung in Slowenien zurückdenke und an die Etappen, die ich dort zurückgelegt hatte, von denen ich vorher nie gedacht hätte ich würde sie schaffen, schöpfe ich neuen Mut für die zweite Hälfte des GR11. Während der SMT ungemein „anspruchsvoller“ war, ist doch der GR11 eine etwas geselligere Erfahrung. Bis zum heutigen Tage habe ich keine Nacht auf dieser Wanderung alleine im Zelt verbracht, immer hatte ich andere Wandernde um mich gehabt, mit ihnen zu Abend gegessen und gequatscht. Ich habe die Gesellschaft von Gleichgesinnten bisher sehr genossen und hoffe in Zukunft neue Freundschaften zu schließen. Dennoch freue ich mich auf ein paar Tage in der Wildnis, an denen ich mich nur auf mich selbst konzentrieren kann. Es wird eine Herausforderung, sie sehr wertvoll sein kann.
Insgesamt zurückgelegte Distanz: 400 km
Aug 7, 2022 8:41 am
Schön dass es Dir wieder besser geht. Das Buff Tuch als Sport BH solltest Du Dir patentieren lassen…Wieder mal tolle Fotos…viele Grüße vom Sylter Campingplatz