Als wir Idyllwild verließen, war allen klar, das Ende war nahe, doch noch sprach niemand darüber. Der plötzliche Wintereinbruch mit Temperaturen im Minusbereich schien die Art der San Jacinto Mountains zu sein wie sie uns sagen wollten „Euer Willkommen läuft langsam ab.“
Einen ganzen Tag lang wanderten wir durch die grauen Wolken, in dicken Handschuhen und Daunenjacken eingepackt. Es gab keinen Grund Pause zu machen, dabei kühlten wir uns zu sehr ab. Die Nächte waren bitterkalt und wir waren bereit nach Hause zurückzukehren.
Julian
Unser letzter Stopp auf dem Pacific Crest Trail war Julian. Eine kleine Stadt, so gemütlich, als wäre sie direkt aus einer „Gilmore Girls“ Episode. Junge Frauen flanierten in wallenden Röcken und rotbraunen Strickpullovern umher, dass sie mich fast neidisch machten. Cafés und Bäckereien reihten sich aneinander und luden uns ein zu bleiben. Mom‘s Pies war ein legendärer Ort für PCT Hiker. Gegen Vorlage unserer Pacific Crest Trail Permit bekamen wir ein Stück Kuchen unserer Wahl mit Vanilleeis und ein Heißgetränk. Natürlich saßen bereits 5 Hiker um einen großen Tisch versammelt und verspeisten genüsslich ihren Kuchen, als Zach und ich eintraten.
Julian war besonders zur Apfelernte beliebt bei Touristen und so waren Hotelzimmer rar und unbezahlbar. Unsere Trailfamilie entschied sich also vor der American Legion, einer Veteranen Bar (?) zu campieren. Dort gab es eine überdachte Veranda und Feldbetten zum ausleihen für uns Wanderer. Gegen Nachmittag wurde es kalt und wir gesellten uns zu den Ex-Militär Leuten ins Innere der Bar.
Als es schließlich Zeit wurde zu Bett zu gehen wurden wir böse überrascht. Es war eiskalt, begann zu regnen und ein dichter Nebel hatte sich über die Stadt gelegt. Nicht gerade die besten Bedingungen für eine Nacht auf dem Feldbett. Wir gingen wieder hinein und schmiedeten Pläne. Es musste doch Trail Angels in Julian geben, die uns für eine Nacht aufnehmen würden. So telefonierten wir herum. Peter war letztendlich erfolgreich und brachte Trail Angel Becky dazu uns abzuholen und in ihrem Wohnzimmer schlafen zu lassen. Welch eine Erleichterung.
Es war dunkel als Becky’s Auto, vollbepackt mit 6 Wanderern, in die Einfahrt rollte. Als wir ausstiegen hörten wir das Gebell etlicher Hunde. Zu meinem Glück hinter einem Zaun. Becky hatte 9 Hunde.
Als ich das Haus sah, bekam ich fast einen Schock. Überall stand Kram. Gartenzwerge, Eimer, unidentifizierbare Gegenstände. Becky sagte, sie würde bald umziehen, daher sei es etwas chaotisch. Wir betraten ihr Haus und ich wollte am liebsten sofort auf der Schwelle kehrt machen. Noch mehr Kram. Das ganze Haus war voller…Zeug. Jutebeutel, Kostüme, Bettzeug, Dekoration… Doch wir waren dankbar für unsere Unterkunft und suchten uns ein Plätzchen zum schlafen. Sofas und Betten gab es hier genug.
Becky gab uns eine kleine Haus-Tour und machte uns mit ihren 14(!) Katzen bekannt. Diese Frau hortete nicht nur Dinge, sondern auch Tiere. Ein weiterer Hund saß in einem viel zu kleinen Käfig in der Ecke und bewegte sich kaum. Das Badezimmer war ein Sammelsurium an Shampoo Flaschen. Ich glaube, ich hatte in meinem ganzen Leben nicht so viel Shampoo verbraucht, wie in diesem Badezimmer Flaschen standen. Sie hatte sogar einen automatischen Seifenspender „Der funktioniert manchmal nicht, nehmt einfach die Flaschen“… hmmm. Das Badezimmer war ebenfalls Heimat von Becky’s… Schildkröte.
Doch Becky war freundlich und zuvorkommend, die Dusche war warm und die Nacht war trotz ständigen Besuchs einer stark übergewichtigen Katze recht gemütlich.
Becky fuhr uns am nächsten Morgen zurück zum Trail, wo wir in die letzten 100 km des PCT starteten. Hier im Süden war der Trail bei weitem nicht so abgelegen, wie zuvor und sehr zu meinem Leidwesen hatte man überall Handy Empfang. Wenn wir abends zusammen saßen, erzählten wir uns Geschichten vom Trail und was wir zuhause alles machen würden. Worauf wir uns am meisten freuten. Und was wir als erstes essen würden.
Und so wanderten wir dahin. Unsere letzten paar Tage waren kurz. Statt 40 km am Tag wanderten wir nur noch knapp über 30, manchmal sogar weniger – wir hatten es ja nicht eilig. Keiner von uns konnte so richtig fassen, dass es bald vorbei sein würde. Und das, obwohl wir doch täglich so viel Zeit hatten um nachzudenken.
Der letze Tag
Unser letzter Tag auf dem Pacific Crest Trail wurde ein wenig von einem wichtigen Ereignis für die gesamte Welt überschattet: die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Doch daran konnten wir nun mal nichts ändern, also kauften wir uns eine Flasche Champagner in Campo und blendeten die Welt, so gut es eben ging, für einen Moment aus.
Schon eine Meile von der Grenze entfernt konnten wir die riesige Metall-„mauer“ sehen, die Mexiko von den USA trennt. Und wir konnten sie auch hören. Der Wind blies gegen und durch die Schlitze in der Mauer und erzeugte einen unangenehmen, fast ein wenig unheimlichen Klang. Wir näherten uns dem Monument am südlichen Terminus des PCT. Ich hatte das Monument bereits auf so vielen Fotos und Videos gesehen, doch es überraschte mich, wie unscheinbar das Ding hier mitten in der Wüste stand, neben der hässlichen, pfeifenden Mauer. Alle nacheinander gingen wir zum Monument und legten unsere Hand darauf. Als müsste man spüren, dass es Wirklichkeit war. Wie so oft in relevanten Momenten meines Lebens wusste ich nicht wirklich, was ich fühlte. Erleichterung, Stolz, ein wenig Trauer, doch wo war die Freude? Ich konnte nicht glauben, dass diese gewaltige Reise genau hier endete. Dies war das Ziel, auf das wir monatelang hingearbeitet haben, unser Nordstern am Himmel. Etwas, das vor wenigen Monaten noch so außer Reichweite schien, dass wir vermieden daran zu denken. Ein Ziel, größer als wir selbst.
Zach, Kite und Peter stachen mit ihren Wanderstöcken in ihre mitgebrachten Bierdosen und gossen sich das Bier in den Mund. Ich war mir nicht sicher, ob es sich dabei um eine Thru Hiker Tradition handelte. Ich kannte nur die Tradition ein Bier aus dem Wanderschuh zu trinken, doch wir hatten uns darauf geeinigt, dass daran kein großes Interesse bestand. Die Schuhe gehörten in den Biohazard Abfall.
Anschließend wurde der Champagner geköpft. Peter schüttelte die Flasche ordentlich, damit wir eine schöne Fontäne zu bewundern hatten.
Und dann… bestellten wir uns einen Uber und fuhren nach San Diego. Zum ersten Mal wanderten wir von den PCT Schildern weg, ohne die Absicht zurückzukehren. Es war ein seltsames Gefühl, wir redeten nicht viel. Jeder war in seiner ganz eigenen Welt.
Als wir San Diego erreichten war ich erschöpft, mein Kopf schmerzte und die Menschenmassen im Stadtteil Ocean Beach waren überwältigend. Wir aßen gemeinsam in einem asiatischen Restaurant, dann gingen die Jungs noch auf ein Bier zum Strand, während ich mich ins Bett legte. Es dauerte noch ein wenig, bis mein Gehirn alles Geschehene verarbeiten konnte, doch glücklicherweise hatten wir noch ein paar Tage voller gemeinsamem Kochen und Kaffee trinken in San Diego vor uns.
Meine letzten Tage verbrachte ich in Cafés, Museen, Büchereien, am Strand und in meinen Gedanken.
Viele Menschen begeben sich auf eine Wanderung wie den PCT, um „sich selbst zu finden“. Das war nie meine persönliche Intention bei der ganzen Sache. Dennoch kommt man ja nicht umhin, sich zu fragen, warum man sich das alles eigentlich antut. Eine 4200 km lange Wanderung ist höchst unpraktisch, wenn man bedenkt, dass man ja eigentlich Geld verdienen, und/oder sein Studium abschließen könnte. Also was war es am Pacific Crest Trail, das mich all diese Jahre so in seinen Bann gezogen hat? Mit dieser Frage habe ich mich immer und immer wieder beschäftigt und bin zu folgendem Schluss gekommen:
Vielleicht das offensichtliche zuerst: ich liebe die Natur. Unser Planet ist ein überquellender Brunnen voller Wunder und Schönheit. Auf dem PCT kommt man der Wildnis so nah, wie sonst selten, vor allem in weiten Teilen Europas. Unberührte Orte haben mich schon immer fasziniert, doch nicht nur die Schönheit dieser, sondern auch ihre Unzugänglichkeit. Ich fühle mich scheinbar zu unpraktischen Dingen hingezogen. Ein Leben im Einklang mit der Natur ist fast zwangsläufig friedlich, außer wenn man von einem Berglöwen beobachtet wird.
Wenn ich hier draußen bin, fühlt mein Körper sich gut an, und auch mein Kopf. Ich spüre die Erwartungen der Welt nicht mehr auf meinen Schultern lasten. Manchmal ist es, als bekäme man die Erlaubnis, wieder ein Kind zu sein. Zumindest vorübergehend. Umgeben von all diesen wunderschönen Pflanzen, Vögeln und Felsformationen, wird eine kindliche Neugierde in uns geweckt. An jeder Ecke gibt es so viel zu entdecken.
Während wir uns auf solch eine Reise begeben, wird unser Leben auf das nötigste reduziert. Wortwörtlich, indem wir unser Leben für einen gewissen Zeitraum auf einen Rucksack zu reduzieren, doch auch, indem wir Reize auf unser Nervensystem reduzieren. Wie gut es sich doch „denkt“, wenn man nicht vom Statdlärm umgeben ist, wenn das Telefon nicht mehrmals am Tag klingelt, oder blinkt, weil man keinen Empfang hat. Eines der größten Geschenke ist für mich das „zuende denken“ von Gedanken. Ununterbrochen von anderen Dingen. Wenn man möchte, kann man den ganzen Tag nur nachdenken. Wenn ich beginne zu wandern, sei es auf einem Fernwanderweg oder zuhause, beginne ich über Dinge nachzudenken, über die nachgedacht werden muss.
Dieses Zitat habe ich von Zach und Heraklit gestohlen, doch ich finde, es passt gut:
Man ist nicht der selbe Mensch, und der Fluss ist nicht der selbe Fluss. Wenn ich mich selbst an der kanadischen Grenze betrachte, sehe ich nicht die selbe Person, die gerade in der Bücherei in San Diego sitzt und diese Zeilen schreibt.
Um es mit den Worten von Rainer Maria Rilke zu sagen:
Meine Reise auf dem Pacific Crest Trail war nicht nur eine Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch eine in die abgelegensten Schubladen meines Gehirns. Schubladen, die lange darauf gewartet haben, endlich geöffnet zu werden.
Wie John Muir sagte:
Ich suchte Abenteuer, Zeit in der Natur und eine große Herausforderung. Engagement für ein Ziel, das mir wichtig war. Doch ich fand so viel mehr als das: tiefe Freundschaften, Vertrauen in mich selbst und die Motivation, all diese Dinge in mein „normales“ Leben zu integrieren.
Vielen Dank fürs Lesen!