Samstag, 21. Mai 2022
Heute wäre der Geburtstag von Raes Vater gewesen, der leider vor einem Jahr an multiple Sklerose verstorben war. Zu dritt fuhren wir nach Chelan um seinen Geburtstag mit reichlich Kuchen und einer guten Tasse Kaffee zu feiern. Gestern Abend hatte Rae uns eingeladen ihr an diesem Tag Gesellschaft zu leisten, doch ich war zuerst unsicher, wie ich mich in einer solchen Situation verhalten sollte, zumal Rae und ich uns noch nicht besonders lange kannten. Letztendlich war ich sehr froh, mitgefahren zu sein. Auf der 20 minütigen Fahrt in die Stadt hörten wir die Lieder, die Raes Vater am liebsten gehört hatte, darunter viele Titel von Yusuf/Cat Stevens. Die Stimmung war weder traurig noch bedrückend, Rae erzählte uns viele Geschichten von ihrem Vater und zeigte uns Familienfotos.
Wir spazierten ein wenig durch die Stadt, holten uns einen Kaffee und 5 (!) verschiedene Stücke Kuchen in einer Konditorei, weil wir uns einfach nicht entscheiden konnten und alles probieren wollten. Wir saßen mit unserer süßen Ausbeute draußen vor der Bäckerei, Kennedy und Rae auf der Bank, ich den beiden gegenüber auf dem Boden, und erzählten uns Geschichten aus unserer Kindheit. Jeder hatte etwas beizusteuern und es war erfrischend und schön in Erinnerungen zu schwelgen. Wir lachten viel und schafften es nicht unsere gesamte Kuchenausbeute aufzuessen, doch immerhin hatten wir alle probiert und jedes Stück war köstlich gewesen.
Das Wetter war zumindest tagsüber nicht besonders einladend, also verbrachte ich die meiste Zeit in meinem Wohnwagen und begann ein neues Buch zu lesen, während der Regen auf das Dach prasselte. Am Abend klarte der Himmel überraschenderweise auf und Kennedy und ich beschlossen, noch schnell auf den Fourth of July Mountain zu wandern. Allein der Gedanke daran erfüllte mich schon mit Freude, denn in letzter Zeit hatte ich so viel Energie, dass ein Regentag schwer zu ertragen war. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich jeden Tag in ein neues Abenteuer gestürzt. In Rekordzeit errichten wir die Spitze, und mussten lachen, da wir beide so schnell gewandert waren, dass wir stark außer Atem waren. Wandern ist schon gar nicht mehr das richtige Wort für unsere Leistung. Also einigten wir uns darauf, bei zukünftigen und längeren Touren unser Tempo etwas besser zu kontrollieren, für heute war es jedoch perfekt, sich noch mal so richtig auszupowern.
Oben gab es einen umgefallenen Baumstamm von dem aus man den ganzen See überblicken konnte. Wir setzen uns hin und redeten über alle möglichen Themen. Kennedy war eine sehr angenehme Gesprächspartnerin und war an Themen interessiert, zu denen ich bisher nicht wirklich einen Zugang hatte, wodurch ich viel von ihr lernen konnte. Sie interessierte sich vor allem für soziale Gerechtigkeit und die Geschichte der Ureinwohner Amerikas.
Wir wurden aus unserer Konversation gerissen, als ein Regentropfen auf meine Hand fiel. Verwundert, von wo er gekommen war, drehte ich mich um: hinter uns hatten sich dichte, dunkle Wolken geformt, also beschlossen wir, schnell wieder hinunterzugehen. Wenige Sekunden später begann es heftig zu hageln, doch gleichzeitig schien noch immer die Sonne. Die Tropfen brachen das Licht und tauchten das gesamte Tal in einen goldenen dunstigen Schimmer. Und wie sich das gehört war ein wunderschöner Regenbogen auch mit von der Partie und ließ die gesamte Kulisse fast magisch wirken.
Sonntag, 22. Mai 2022
So sehr ich das Wandern liebte, entschied ich mich heute stattdessen mal das Fahrrad zu nehmen und etwas abgelegen vom See mein Zelt aufzuschlagen. Um 5:30 Uhr stand ich auf, packte meinen Rucksack und holte das Fahrrad aus der Scheune. Der Vorderreifen war überraschenderweise schon wieder platt, also pumpte ich ihn auf und steckte die Luftpumpe vorsichtshalber ein.
Dann ging es auch schon los. Der Himmel war strahlend blau und so früh am Tage war kaum ein Auto unterwegs. Mein Weg führte mich die ersten 17 km durch die Weinberge nach Chelan, wo ich mir einen Ersatzschlauch und ein kleines Set zum Reifenflicken kaufte. Anschließend ging es westwärts am südlichen Ufer des Lake Chelan entlang bis zum Twenty-five-mile Creek. Die Straße war wenig befahren und führte immer mal wieder hinauf und hinab durch die immergrünen Wälder Washingtons die hier und da einen wunderschönen Blick auf den See freigaben. Es fühlte sich gut an, wieder im Sattel zu sitzen und zur Abwechslung mal etwas schneller voranzukommen. Hin und wieder verfluchte ich das Fahrrad und seine veraltete Schaltung (ihr wisst schon, so eine wo man am Lenker dreht…) doch weder das, noch die ineffiziente Übersetzung meiner Kraft in Geschwindigkeit konnte mir meine Freude an der Fahrt verderben. Die Sonne, die Berge und der blaue Himmel über mir versorgten mich mit reichlich positiver Energie und schon um 12:00 Uhr erreichte ich den Twenty-five-Mile Creek. Ich stellte das Rad ab, füllte meine Wasserflasche im kalten Bach auf und ließ mich daneben nieder. Für einige Zeit entspannte ich in der Sonne und lauschte dem rauschenden Bach.
Nach meiner Pause ging es nun tiefer in die Berge zu meinem heutigen Ziel, dem Snowberry Campground. Die Straße führte anfangs so steil bergauf, dass ich mein Rad für eine Weile schieben musste, bis ich irgendwann wieder aufsteigen konnte und die Straße zu einem Forstweg wurde. Die letzten paar Kilometer radelte ich durch den Wald, überquerte erneut den Bach an dessen Mündung ich zuvor gesessen hatte und erreichte nach einem letzten Anstieg den Campingplatz.
Hier oben war es fast menschenleer, nur eine einzige andere Campsite war besetzt. Ich suchte mir die schönste aus und sah, dass es hier oben einen Wasserhahn gab. Was für ein Glück, dachte ich, so könnte ich mein Flusswasser, welches leider einiges an Dreck transportiert hatte, wegschütten und mir frisches Wasser besorgen, sodass ich auf den Filter verzichten könnte. Nachdem ich meine Flasche entleert hatte, versuchte ich den Wasserhahn zu betätigen, doch leider begann er nicht einmal zu tropfen. Vielleicht hätte man das testen sollen, bevor man das ganze Wasser wegschüttet. 🌚
Ich spazierte hinüber zu dem anderen Camper und fragte ihn, ob es bei dem Wasserhahn irgendeinen Trick gäbe. Er sagte mir, dass die Wasserzufuhr anscheinend nicht funktionieren würde aber bot mir an meine Flasche aufzufüllen, da er einen ganzen Kanister Wasser mit hinauf gebracht hatte. Dankend nahm ich sein Wasser entgegen und sparte mir einen Trip zum Bach.
Der Mann stellte sich mir als Mick vor und schüttelte meine Hand. Er zeltete schon seit 3 Tagen hier oben und kam aus der Gegend. In wenigen Tagen würden seine Tochter und Enkelkinder auch dazustoßen und gemeinsam mit ihm zelten. Wir redeten ein bisschen und ich verabschiedete mich, um mein Zelt aufzubauen, woraufhin er antworte „alright, talk to you later.“ also nahm ich an, dass er sich über Gesellschaft freuen würde.
Nachdem mein kleines Zuhause aufgebaut, die Isomatte aufgeblasen und der Schlafsack ausgebreitet war, beschloss ich für mein Abendessen zu Mick hinüber zu gehen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie lange ich überlegt hatte, ob ich einfach zu ihm hinübergehen und mich dazusetzen könnte. Je länger ich unterwegs war, desto leichter fiel es mir mit fremden Menschen zu sprechen, wo ich doch früher nie ein Wort herausgebracht hatte. Mick freute sich sehr über meine Gesellschaft und erzählte mir viel über seine Wanderungen und seine inzwischen schon erwachsenen Kinder. Er war erst letztes Jahr 6 Tage in den North Cascades unterwegs gewesen und fast bis nach Stehekin gewandert. Der Grund warum er die letzen zwei Meilen nicht hinunter ins Tal abgestiegen ist war, weil er seine Geldbörse vergessen hatte und eigentlich nur zur berühmten Bäckerei wollte! Ich lachte und sagte, sie hätten ihm bestimmt auch eine Zimtschnecke geschenkt, wenn er schon so weit gekommen war! Mick sagte, er würde es auf jeden Fall wieder probieren.
Ich erzählte ihm von meinen Plänen den PCT zu wandern und er sagte mir ich solle nicht darauf warten, mir meinen größten Traum zu erfüllen und auf den Rat eines alten Mannes hören. „Irgendwann passieren Sachen im Leben, vielleicht verliebst du dich, vielleicht findest du einen sicheren Job, vielleicht möchtest du sogar Kinder haben. Es wird immer schwerer für ein halbes Jahr auszusteigen.“ Ich erklärte ihm, dass all diese Sachen nicht in Aussicht seien und ich den Trail gemeinsam mit meinem Bruder wandern wollte und deshalb nicht sofort loswandern könnte. Mick hatte selbst vor vielen Jahren den PCT begonnen, nachdem es ebenfalls ein jahrelanger Traum von ihm gewesen war. Er startete in Washington und wollte nach Süden wandern, doch leider konnte er damals nicht genug Urlaub bekommen, um den Trail komplett zu wandern.
Nachdem wir ungefähr 3 Stunden miteinander geredet hatten (wow! So etwas kann ich auch nur hier draußen ), begab ich mich zu meinem Zelt, putzte mir die Zähne und legte mich hin. Es war nicht mehr so kalt wie die letzten Nächte im Zelt und noch dazu sehr lange hell, doch bald schlief ich ein.
Als ich um 5:00 Uhr aufwachte, war mir irgendwie nicht gerade danach aufzustehen, also blieb ich noch ein wenig liegen. Das war zwar unüblich, aber ich hatte alle Zeit der Welt und je mehr Nächte ich im Zelt verbrachte, desto gemütlicher wurde es. Um kurz vor 6:00 Uhr beschloss ich aufzustehen, und mir Frühstück zu kochen. In letzter Zeit war meine Campingküche nicht besonders kreativ und ich hatte noch jede Menge porridge vom letzten Einkauf. Mit meinem Titantopf in den Händen, gefüllt mit dampfendem Porridge, saß ich in meinem Zelt. Auch wenn es nicht mehr so kalt war, hatte ich mir meinen Schlafsack um die Beine geschlungen. Für das richtige „Frühstück im Bett-Feeling“ durfte er nicht fehlen.
Montag, 23. Mai 2022
Nach meinem Frühstück baute ich das Zelt ab, verstaute alles im Rucksack und schwang mich wieder aufs Rad. Mick schlief noch, doch sicherheitshalber hatte ich ihm gestern schon mitgeteilt, dass ich eine echte Frühaufsteherin war, also hatten wir die Verabschiedung ein wenig vorgezogen.
Alles was ich gestern bergauf gefahren war, ging es heute bergab, somit musste ich die ersten paar Kilometer kaum in die Pedale treten. Ich hielt kurz am Bach an, füllte meine Flasche und fuhr wieder in Richtung Lake Chelan. Schon nach wenigen Kilometern machte sich deutlich bemerkbar, dass ich keine Fahrradhose trug, doch bis nach Hause würde ich es schon aushalten, dachte ich mir. Ich raste den Berg hinunter, bremste etwas mehr, als ich es mit meinem eigenen Rad getan hätte, doch es machte einfach so viel Spaß schnell zu fahren und den Fahrtwind zu spüren (vor allem wenn keine Autos unterwegs sind und man die ganze Straße für sich allein hat!).
Nach gut einer Stunde musste ich eine kurze Pause machen. Alle Bereiche meines Körpers, die mit dem Fahrradsattel in Berührung kamen schmerzten und brannten. Ich wartete 10 Minuten, hörte Musik, tanzte ein wenig neben der Straße – da mich hier sowieso niemand sah und das Lied einfach zu gut war um sich nicht dazu zu bewegen – und dann ging es weiter. Der Schmerz wollte leider einfach nicht nachlassen, und daran gewöhnen wollte sich mein Körper auch nicht so richtig. Immer wieder fuhr ich im stehen und versuchte so wenig wie möglich im Sattel zu sitzen, doch das war natürlich nicht möglich. Es half alles nichts, da musste eine gute-Laune-Playlist her. Patti Smith, Aretha Franklin und Earth Wind & Fire machten die Fahrt erträglicher und stumm sang ich mit, um mich selbst ein wenig abzulenken.
Um 10:00 Uhr erreichte ich endlich Chelan und das hieß, ich hatte mehr als die Hälfte der Strecke geschafft. Der Level an Schmerz den ich in meinem Hintern verspürte war sehr weit oben auf der Skala angesiedelt und scheinbar hatte ich auch nicht bedacht, dass ein großer Rucksack das ganze nicht gerade angenehmer machen würde. Ich holte mir einen Kaffee in Chelan, spazierte ein wenig herum und drückte mich davor, mich wieder auf mein Rad zu schwingen. Nachdem ich fast das Ende der Stadt erreicht hatte, überwand ich meinen Widerstand und fuhr die letzten 15 Kilometer bis zur Farm. Es war nicht besonders angenehm und ich überlegte schon jemanden mit einem Pickup anzuhalten und um eine Mitfahrt zu bitten, doch das letzte Stück würde ich jetzt auch noch schaffen und mich am Ende vermutlich freuen, diese Fahrt bis zum Ende durchgezogen zu haben.
Um 11:30 Uhr erreichte ich Seth’s Farm. Kennedy war gerade im Kräutergarten und ich parkte das Rad, packte meinen Rucksack aus, machte mir etwas zu essen und dann ging es auch schon an die Arbeit. Ich war unglaublich froh, nicht mehr im Sattel zu sitzen, doch trotz des Schmerzes am zweiten Tag hatte ich jede Menge Spaß gehabt und war überglücklich und voller Energie nach diesem kleinen Abenteuer. Der Arbeitstag war zum Glück eher entspannt und ich sehnte mich den ganzen Tag nach einer Dusche, die sich am Ende des Tages wunderbar anfühlte.
Freitag, 27. Mai 2022
Die Woche verging wie im Flug und da es endlich wärmer wurde, setzten wir Gurken, Pepperonis, Kürbisse und Melonen in den Boden.
Heute verbrachten wir damit, eine ganz bestimmte Sorte von Unkraut zu entfernen, die Seth schon lange auf die Nerven ging. Sie war nur schwer von dem blühenden Senf zu unterscheiden, der gerade die Wiesen zierte, welche die Farm umgaben. Unser Unkraut hatte allerdings eine etwas dunkler gelbe Blüte und war für ein Unkraut eigentlich ganz hübsch. Nichtsdestotrotz musste es entfernt werden und zwar bevor es sich vermehrte. Bewaffnet mit Müllsäcken, die so groß waren, dass man darin eine Leiche hätte verstauen können, rupften wir alle Pflanzen aus der Erde, sammelten sie ein und arbeiteten uns so langsam voran.
Nach drei Stunden hatten wir es endlich geschafft und waren bereit ein paar weitere Pepperoni-Setzlinge ins Gewächshaus zu pflanzen. Dafür ernteten wir zunächst alle Radieschen, deren Zeit hier leider vorüber war. Nun, da das Beet wieder frei war, setzen wir behutsam eine Pepperoni-Pflanze nach der anderen in die weiche Erde. Hier würden die ganz besonderen Pepperonis gedeihen, darunter auch die sogenannte „Ghost Pepper“, eine der schärfsten, die es gibt!
Um Punkt 13:00 Uhr war ich fertig mit der Arbeit, inhalierte in Rekordzeit eine Schüssel Müsli und sprang unter die Dusche. Anschließend fuhr mich Rae zur Bushaltestelle in Manson, die ich genau eine Minute vor Abfahrt des Busses nach Wenatchee erreichte. Erleichtert setzte ich mich auf einen der freien Plätze und da fuhr der Bus auch schon los.
Bis nach Wenatchee waren es ungefähr 1 1/2 Stunden, doch diese vergingen erstaunlich schnell. Als ich an der Columbia Station ausstieg erwartete mich Elijah. Mit einem „Meine Eltern haben mich immer davor gewarnt bei Fremden ins Auto zu steigen.“ begrüßte ich ihn und wir fuhren gemeinsam zur Kletterhalle.
Das ist vielleicht ein ganz guter Zeitpunkt, um zu erklären, wie ich endlich dazu gekommen war wieder zu klettern, und wer dieser mysteriöse Elijah ist.
Wir hatten uns über die Dating-App Bumble kennengelernt, die nicht nur eine Dating-Funktion besitzt, sondern auch eine BFF-Funktion (Best Friends Forever; ob der Name Programm ist wird sich herausstellen). Elijah war 23 Jahre alt und vor 2 Monaten von Michigan nach Washington gezogen, weil er näher in den Bergen leben wollte, und einen Job als „Infrastructure engineer“ angenommen hatte. Er war auf der Suche nach einem Adventure Buddy und so hatten wir beide uns schließlich gefunden. Er hatte außerdem eine Mitgliedschaft in der Kletterhalle und bekam dadurch jeden Monat einen Gästepass, um Freunden kostenlosen Eintritt zu ermöglichen. Elijah hatte mich eingeladen zusammen mit ihm zu klettern, und diese Einladung konnte ich schlecht ablehnen.
Als wir die Kletterhalle erreichten, lieh ich mir Schuhe aus und wir wärmten uns mit ein paar Bouldern auf. Es fühlte sich toll an, endlich wieder zu klettern und wir beschlossen noch einen Schritt weiterzugehen und die hohen, seilgesicherten Wände zu klettern. Letzten Winter hatte ich in Wien begonnen mit ein paar Freunden zu klettern und war seitdem begeistert von meinem neuen Hobby. Um an die hohe Wand zu dürfen, musste ich allerdings erst einen Test bestehen, den ein Mitarbeiter der Kletterhalle mit mir durchführte. Ich musste ihm zeigen, wie ich den Achterknoten band, wie ich das Sicherungsgerät verwendete und wie ich reagierte, falls mein Kletterpartner stürzte. Da ich all diese Dinge seit Monaten nicht gebraucht hatte, bekam ich nicht alles auf Anhieb hin und die englischen Wörter machten das ganze auch nicht gerade einfacher. Der Mitarbeiter war allerdings ein sehr lustiger junger Mann und wir hatten jede Menge Spaß bei der Einführung. Noch dazu war er sehr geduldig mit mir. Zwischendurch warf ich Elijah einen Blick zu, der sichtlich besorgt aussah und sich scheinbar fragte, auf was er sich da eingelassen hatte. Nach dem dritten Versuch bestand ich die Prüfung und wir durften gemeinsam an der Wand klettern. Mein Prüfer sagte, dies sei zwar die längste Prüfung gewesen, die er jemals betreut hatte, doch gleichzeitig auch die unterhaltsamste.
Wir kletterten abwechselnd, mal sicherte ich Elijah, mal sicherte er mich. Schon nach ein paar Runden fühlte sich der Bewegungsablauf wieder flüssig an und Elijah machte sich keine Sorgen mehr, sein Todesurteil unterschrieben zu haben. Wir verstanden uns gut und hatten jede Menge unterhaltsame Themen, über die wir sprachen. Ich liebte die flüssigen Bewegungen beim klettern, das außergewöhnliche Gespür für den eigenen Körper, den Fokus in meinem Kopf und die Höhe. Meine größte Schwachstelle waren meine Hände, die schnell an Kraft verloren, und wenn dies eintrat kurz bevor ich das Ende der Wand erreichte, brachte mich mein Adrenalin doch immer bis nach ganz oben. Ich liebte den Nervenkitzel der nachlassenden Kraft in der Höhe beim Klettern doch selbst im Falle eines Falls (ha-ha), fiel man meistens nicht sehr weit und es war umso bereichernder, mit der letzten Kaskade an Adrenalin doch noch mehr Kraft aus den erschöpften Muskeln herausholen zu können.
Nach ungefähr drei Stunden waren wir beide erschöpft und beschlossen in einem nahegelegenen Restaurant etwas essen zu gehen. Wir unterhielten uns über Kunst, über Bücher und über unsere Leidenschaft für das Wandern. Elijah hatte viele Touren für den Sommer geplant und ich bot ihm an, ihn zu begleiten, da ich auch noch so viel von Washington sehen wollte, wie ich nur konnte, bevor es wieder Zeit war abzureisen. Und die Abreise rückte mit jedem Tag näher.
Nach unserem köstlichen Abendessen wanderten wir noch auf einen kleinen Berg in der Nähe. Die Wanderung war nicht besonders lang, aber wir legten einiges an Höhe zurück. Als wir die Spitze erreichten, wurden wir mit einem Ausblick über die ganze Stadt belohnt, die in das rosarote Licht der untergehenden Sonne gehüllt wurde.
Wir schauten dem Spektakel ein wenig zu und Elijah fragte mich, ob ich schon von dem Vulkan Mt. St. Helens in Washington gehört hatte. „Ja!“ rief ich begeistert und berichtete ihm, dass ich gerade kürzlich einen sehr beeindruckenden Artikel über den Vulkan gelesen hatte, welchen mein Opa mir empfohlen hatte. Den Vulkan tatsächlich zu sehen, stand auf jeden Fall auf meiner To-Do Liste für die Reise, doch war die Liste immer länger und länger geworden und schien inzwischen unmöglich abzuarbeiten. Seit ich den besagten Artikel gelesen hatte, war ich fasziniert von den in einem Vulkan herrschenden Naturgewalten und der sich damit befassenden Wissenschaft und Forschung. Der Artikel hatte mich auch dazu motiviert, ein Buch über Geologie zu lesen und im Herbst ein paar Kurse an der Uni zu belegen, denn die Geochemie war gar nicht so weit entfernt von meinem eigenen Fachbereich.
Der Mt. St. Helens ist ein aktiver Vulkan in der Kaskadenkette, die sich entlang der Westküste Nordamerikas erstreckt und einen Teil des pazifischen Feuerrings darstellt. Im Mai 1980 brach der Mt. St. Helens das letzte mal nach einer Reihe von Erdbeben aus und verlor seine Nordflanke, die durch die explosionsartige Eruption nachgegeben hatte. Der Vulkan hatte dabei auch gute 400 Meter an Höhe verloren.
Elijah und ich begannen Pläne zu schmieden nächstes Wochenende zum Mt. St. Helens zu fahren, denn… warum denn eigentlich nicht?
Vor einiger Zeit hatte ich ein Kompliment dafür bekommen, dass ich „Sachen einfach mache“, und je mehr ich darüber nachdachte, desto passender schien mir diese Beschreibung. Wenn ich nicht „Sachen einfach machen“ würde, wäre ich vermutlich nicht in Washington, wäre nicht den Slovenian Mountain Trail gewandert und würde vermutlich auch nicht den Mt. St. Helens, von dem ich so fasziniert war mit eigenen Augen sehen. Manchmal kam es mir sogar so vor, als wäre es für mich schwieriger, „Sachen einfach nicht zu machen“, wenn ich sie doch so gern machen wollte. Letztendlich bin ich sehr dankbar, denn diese Eigenschaft hat mir die bisher schönsten Momente meines Lebens ermöglicht, die ich niemals vergessen und mich immer gern an sie zurückerinnern werde.
Als die Abenddämmerung sich ankündigte, machten wir uns wieder auf den Weg nach unten. Elijah erzählte mir, dass er Musik über alles liebte, gerne sang, Gitarre und Klavier spielte. Er hatte sogar schon in einer Band gespielt. Ich erzählte ihm, dass ich auch Gitarre spielte und wir beschlossenen eine von unseren Gitarren mit auf unseren Trip zum Vulkan zu nehmen.
Der letzte Bus zurück nach Manson war bereits um 18:00 Uhr gefahren, doch Elijah hatte schon am Nachmittag angeboten, mich nach Hause zu fahren, damit wir etwas mehr Zeit hatten für unsere Vorhaben. Wir setzten uns ins Auto und machten uns auf den Weg zur Farm. Während der Fahrt spielten wir abwechselnd unsere Lieblingslieder und stellten fest, dass wir viele Gemeinsamkeiten in unserem Musikgeschmack besaßen. Bei „You can’t always get what you want“ sangen wir beide lauthals mit, wobei er die Töne definitiv besser traf als ich, doch das war egal, denn es fühlte sich gut an und wir hatten jede Menge Spaß.
Als wir die Farm erreichten, stieg ich aus und bemerkte den sternenklaren Himmel über unseren Köpfen. Hier draußen gab es so wenig Lichtverschmutzung, dass die Sterne in einer wolkenlosen Nacht hell leuchtend am Himmel standen. Elijah sagte er hätte in Wenatchee noch nie so einen beeindruckenden Sternenhimmel gesehen und wir beobachteten gemeinsam für einige Zeit den Himmel. Er kannte einige Sternbilder, doch ich erkannte nur den kleinen Wagen, zumal mir die englischen Namen auch nicht wirklich von Begriff waren. Unter diesem unendlich scheinenden Firmament geschmückt mit strahlenden Himmelskörpern fühlte man sich so angenehm klein und unbedeutend. Doch irgendwie fühlte es sich auch gut an klein und unbedeutend zu sein, wir Menschen nahmen uns selbst doch meistens viel zu ernst. Im Vergleich zum Universum waren wir jedoch nicht einmal ein Staubkorn.
Samstag, 28. Mai, 2022
Kennedy und ich beschlossen heute mit ihrer Hündin Magnolia auf eine Wanderung in der Alpine Lakes Wildnis zu gehen. Der Trail war eigentlich über 34 km lang und ab 1500 m Höhe noch nicht schneefrei, doch wir wollten trotzdem versuchen zu wandern, wie weit wir eben kamen. Auf dem Parkplatz mussten wir einen Forest Pass bezahlen und ausfüllen. Während Kennedy den Pass zum Auto brachte und hinter die Scheibe hing, kam ich ins Gespräch mit einem Ranger vom US Forest Service. Er sagte, der Schnee sei zwar in den letzten Tagen schnell geschmolzen, doch durch das ständige Auf und Ab der Temperaturen änderte sich der Zustand der Trails fast täglich. Anschließend fragte er mich, welche trails ich schon gewandert sei und welche geplant seien und ich erzählte ihm vom Mt. St. Helens. Er war selbst vor ungefähr zwei Wochen auf den Gipfel des Vulkans geklettert und sagte dies sei die beste Zeit des Jahres, weil der Schnee noch recht hart war. Elijah und ich hatten nicht die Intention bis zum Krater des Vulkans zu klettern, zumal man dafür eine Permit benötigte, die wir nicht hatten. Wir hatten eine backcountry permit, die uns erlaubte im Mt. St. Helens Monument zu zelten und das reichte uns ehrlich gesagt auch aus, zumal ich kein Equipment für eine Besteigung im Schnee besaß.
Als Kennedy zurück kam, verabschiedeten wir uns von dem netten FS-Ranger und begannen mit unserer Wanderung. Der Weg führte rechts des Ingall Creeks leicht bergauf durch eine Schlucht, die rechts und links von leicht bewaldeten Bergen begrenzt wurde, deren Spitzen noch von Schnee bedeckt waren. Der Trail war gesäumt von Blumen und Gräsern, die im Schatten der Bäume ungestört wachsen konnten. Schon den ganzen Tag war der Himmel bedeckt gewesen und irgendwann begann es leicht zu regnen, was jedoch wenig störte und sogar eigentlich ganz angenehm war. Hier und da sahen wir vereinzelt ein paar Schneefelder, derer letzen Tage nahten. Nach ungefähr sieben Kilometern bergauf erreichten wir eine Stelle, an der man guten Zugang zum Bach hatte, also setzten wir uns hin und verzehrten unsere mitgebrachten Snacks. Der Bach rauschte so laut neben uns, dass wir uns kaum unterhalten konnten, doch Kennedy und ich waren ganz gut darin, auch einmal nicht zu reden. Ab hier würde der Trail steiler bergauf in die höheren Lagen steigen und wir beschlossen nach unserer Pause zurück zu wandern.
Auf der Rückfahrt machten wir einen kurzen Stopp in Wenatchee um einkaufen zu gehen, da es hier ein Lebensmittel Outlet gab, in dem man günstig einkaufen konnte. Ich schrieb ein paar SMS mit Elijah und er erzählte mir, dass der Lost and Found Tisch in der Kletterhalle heute abgeräumt werden würde und er kurz hinfahren und sich eine Wasserflasche mitnehmen würde, die er dort gesehen hatte. Ich hatte gestern einen Klettergurt gesehen und bat ihn, diesen für mich abzuholen, falls er noch da war. Glücklicherweise war der Klettergurt tatsächlich noch da und Elijah hatte ihn gerettet! Nach unserem Einkauf hielt Kennedy kurz vor seinem Haus an und ich lief hinein um meinen Gurt abzuholen. Wir verabredeten uns bei dieser Gelegenheit auch gleich morgen wieder klettern zu gehen. Ich war überglücklich, denn selbst in Österreich besaß ich nur einen Gurt für Klettersteige, der zwar für’s Klettern an der Wand weniger gut geeignet war, aber wen nötig auf jeden Fall tat was er sollte. Ich war immer wieder kurz davor gewesen, mir selbst einen Gurt zu kaufen und bisher wollte ich nie das nötige Geld dafür ausgeben, doch nun hatte ich endlich einen richtigen Klettergurt bekommen und er hatte mich keinen Cent gekostet!
Sonntag, 29. Mai, 2022
Als ich aufwachte fiel es mir schwer aus dem Bett zu kommen. Schon die letzten zwei Tage hatte ich nur sehr leicht geschlafen und fühlte mich abends nicht wirklich müde oder eher immer noch zu aufgeregt von all den Erlebnissen und Unternehmungen. Ich hatte nur mehr einen Monat in den USA doch es fühlte sich so an, als hätte die beste Zeit gerade erst begonnen. Es war einerseits traurig, doch andererseits warteten zuhause in Europa mindestens genau so tolle Erlebnisse auf mich: der Urlaub mit Mama auf den ich mich schon freute seit wir mit der Planung begonnen hatten, die Wanderung mit Alex, der Umzug zurück nach Salzburg. Zwar liebte ich es, jeden Tag die selbe Arbeitskleidung auf der Farm zu tragen und den ganzen Tag in der Erde zu wühlen, doch der Gedanke daran, mal wieder ein hübsches Kleidchen zu tragen, ein Museum zu besuchen oder ein Glas Wein zu trinken, erfüllte mich mit großer Vorfreude.
Nachdem ich mich aus dem Bett gekämpft hatte, ging ich in die Küche und machte Blaubeer Pancakes für Kennedy und mich. Anschließend suchte ich ein weiteres Fahrrad für sie aus Seths Sammlung heraus und pumpte die Reifen auf. Kennedy und ich schnappten uns einen Helm und wir fuhren nach Manson, um dort in den Bus nach Wenatchee zu steigen. Die Strecke war hügelig und teilweise sehr anstrengend zu fahren und als wir die Bushaltestelle in Manson erreichten teilte mir Kennedy mit, sie würde nie wieder Fahrrad fahren. Nun ja, sie hatte nicht wirklich eine Wahl denn heute Abend mussten wir zur Farm zurückfahren.
Wir luden die Fahrräder auf die ausklappbare Halterung vor dem Bus und stiegen ein. Die anderthalb stündige Fahrt verging wie im Flug und nachdem wir Wenatchee erreicht hatten, mussten wir noch ein gutes Stück bis zur Kletterhalle fahren. Ich freute mich sehr über unsere Art der Fortbewegung, da die Amerikaner besonders gern Auto fahren und die öffentlichen Verkehrsmittel dementsprechend schlecht ausgebaut sind. Unsere An- und Abreise war komplett gratis, denn Fahrrad fahren kostet bekanntlich nichts und die Kosten für die Busfahrt sind als Pilotprojekt für ein Jahr ausgesetzt (vermutlich um die Menschen dazu zu bringen, weniger Auto zu fahren).
Bevor wir die Kletterhalle erreichten, hielten wir noch kurz in einem Café an, holten uns einen Coffee to go und dann ging es weiter. Wir trafen Elijah vor der Halle und Kennedy und er stellten sich einander vor. Dann liehen wir uns Kletterschuhe aus und Kennedy benötigte noch einen Gurt, den ich ja glücklicherweise nun selbst besaß.
Mit ein paar Bouldern wärmten wir uns auf und anschließend nahmen wir uns die hohen Wände vor. Da Kennedy noch nicht sichern konnte wechselten Elijah und ich uns damit ab. Eigentlich war das Klettern als Trio recht praktisch, denn so konnte immer einer von uns Pause machen und den anderen beiden zuschauen.
Nach ein paar Stunden, benötigten wir eine Pause und setzten uns nach draußen. Ich fragte Elijah und Kennedy, was der unnötigste Kauf war, den sie im letzten Jahr getätigt hatten und Elijahs Antwort kann ich euch nicht vorenthalten: es war eine Kettensäge. Kennedy und ich konnten kaum wieder aufhören zu lachen – damit hatten wir nicht gerechnet. Die Kettensägen-Story wurde auch in den darauffolgenden Tagen immer wieder erwähnt.
Freitag, 3. Juni 2022
Die Woche verging wie im Flug und ich hatte Seth gebeten, mir heute einen Tag frei zu geben. Um 6:28 Uhr nahm ich den Bus nach Wenatchee, wo mich Elijah an der Bushaltestelle abholte. Wir fuhren zu seinem Haus und ich zeigte ihm, wie man einen Wanderrucksack richtig packte, denn wir würden im Anschluss in Richtung Mt. St. Helens fahren.
Nachdem wir alles ins Auto geladen hatten, ging es auch schon los. Die Fahrt durch die Nadelwälder Washingtons war schon ein Erlebnis an sich und je westlicher wir kamen, desto grüner wurde es. Nach ein paar Stunden hielten wir an einem See mitten im Nirgendwo an und machten eine kurze Pause, um uns ein wenig die Beine zu vertreten. Wir warfen Steine ins Wasser und Elijah holte meine Gitarre aus dem Kofferraum. Anschließend setzen wir uns auf einen Baumstamm und jeder von uns spielte und sang abwechselnd eines unserer Lieblingslieder. Elijah hatte sogar selbst ein paar Songs geschrieben und spielte sie mir vor.
Als wir weiterfuhren überquerten wir bald einen Pass, der neben der Straße an einigen Stellen noch von Schnee bedeckt war. Ich fühlte die Höhenunterschiede vor allem an dem sich ständig ändernden Druck in meinen Ohren. Nach einiger Zeit bogen wir ab auf eine US Forest Service Road, die uns direkt zu unserem ersten Nachtlager bringen sollte, ein Campingplatz neben dem Swift Reservoir Lake. Die Straße war gesäumt von einem saftig grünen Wald aus von Moos bewachsenen Bäumen und einem von Farn bedeckten Waldboden – eine angenehme Abwechslung verglichen mit der eher trockenen Landschaft in Zentral-Washington. Für ungefähr eine Stunde fuhren wir stetig bergauf durch den dichten Wald, bis wir auf Schnee stießen, der die Seite der Straße bedeckte. Elijah, der aus Michigan kam, hatte schon oft ein Auto durch den Schnee manövriert, also machte ich mir keine allzu großen Sorgen, bis wir schließlich mehr und mehr Schnee vor uns fanden. Wir beschlossen, umzudrehen und nach einer alternativen schneefreien Route zu suchen. Da es hier draußen keinen Empfang und somit keine Möglichkeit gab digital zu navigieren, fuhren wir erst einmal ein gutes Stück zurück, bis wir wieder auf die Zivilisation stießen. Es stellte sich heraus, dass es nur eine andere Option gab um zum Swift Lake Reservoir zu gelangen und diese würde uns 2,5 Stunden kosten. Doch wir hatten kaum eine Wahl, also machten wir uns auf den Weg über die Interstate 5 Richtung Portland zum südlichen Teil des Mt. St. Helens Monuments.
Wir erreichten den Campingplatz gegen 20:00 Uhr und parkten das Auto direkt an unserer Campsite mit der Nummer 12. Es regnete bereits seit 3 Stunden, aber wir beschlossen, auf einen nahegelegenen kleinen Berg zu wandern, um uns ein wenig die Beine zu vertreten. Hinter dem Campingplatz ging es steil bergauf neben einem kleinen Wasserfall. Elijah sagte, er müsse heute noch trainieren, sonst würde er seine 270 tägige Training streak verlieren. Mit einem knappen „okay“ begann ich vor ihm durch den Wald zu laufen mit einer stummen Einladung, mich einzuholen. Wir sprangen über Wurzeln und duckten uns unter tief hängenden Ästen hindurch, bis der Trail schließlich so steil bergauf ging, dass wir beide Hände benötigten, um uns an den Wurzeln der Bäume hinaufzuziehen. Links neben uns plätscherte der kleine Wasserfall und nach einer kleinen Kletterpartie verschmolz der schmale Trail mit einer breiteren Schotterstraße. Außer Atem wanderten wir bis zur bewaldeten Spitze des Hügels und drehten uns um. Wir sahen den See in einem Kessel aus wolkenverhangenen Bergen. An einem klaren Tag hätten wir von hier oben den Vulkan Mt. St. Helens sehen können, doch heute versteckte er sich in den Wolken.
Elijah und ich ließen noch ein paar Minuten unsere Blicke über das Tal schweifen, bis wir beschlossen, wieder hinunter zum Campingplatz zu wandern. Als wir dort ankamen regnete es noch immer und inzwischen war es auch noch dunkel geworden. Wir holten unsere Kopflampen hervor und ich kochte uns Abendessen mit dem Gaskocher. Mit dem Rücken saßen wir an Elijahs Auto gelehnt und aßen abwechselnd aus meinem kleinen Titan Topf, da wir nur einen einzigen dabei hatten. Um uns herum tropfte der Regen von den Blättern, prasselte auf das Auto und den Waldboden und erschuf dabei eine beruhigende und friedvolle Atmosphäre. Elijah teilte mir mit, dass er heute Nacht lieber in seinem Auto schlafen würde, damit er morgen nicht mit einem bereits nassen Zelt in unsere Wanderung starten musste. Als er mich fragte, beschloss ich mit ihm gemeinsam im Auto zu schlafen, denn dort war mehr als genug Platz und das Nasse-Zelt-Argument war überzeugend.
Wir begannen den Kofferraum frei zu machen, bliesen unsere Isomatten auf, breiteten die Schlafsäcke aus und machten es uns im Auto bequem. Elijah fuhr einen Chevrolet Traverse, meiner Meinung nach ein riesiges Auto, doch für amerikanische Verhältnisse eher so mittelgroß. Nachdem die hinteren Sitze umgeklappt waren, konnte man komplett ausgestreckt im Kofferraum liegen. Wir unterhielten uns noch ein wenig, bis wir irgendwann einschliefen.
Samstag, 04. Juni 2022
Als ich aufwachte, waren die Fensterscheiben des Autos beschlagen. Mit meinem Zeigefinger malte ich kleine Bilder auf die Scheibe direkt über uns und erklärte Elijah, dass ich alle Variationen des Haus vom Nikolaus malen konnte, ohne den Finger abzusetzen. Seine Begeisterung ließ jedoch zu wünschen übrig und wurde meinem Talent nicht ganz gerecht.
Wir lagen noch ein wenig in unseren warmen Schlafsäcken, bis wir schließlich beschlossen, das Lager abzubrechen und Frühstück zu machen. Ich breitete meine Zelt Unterlage auf dem nassen Waldboden aus, sodass wir uns darauf setzen und frühstücken konnten. Elijah hatte Chai Tee mitgebracht und ich kochte eine Tasse Wasser für uns auf. Abwechselnd nahmen wir einen Schluck Tee und ich bereitete unser Frühstück vor: Porridge mit Himbeeren und Heidelbeeren von Seth’s Farm.
Um 10:00 Uhr räumten wir alles ein und machten uns auf den Weg zur „Ape Cave“, eine 1900 Jahre alte Lavaröhre, die sich durch Ströme dünnflüssiger Lava neben und unterhalb des Vulkans gebildet hatte. Die so genannten Lavaröhren entstehen, wenn die Lava während des Ausbruchs den Vulkanhang entlangfließt. Da die Fließgeschwindigkeit und Temperatur außen am geringsten sind, erstarrt die Lava hier zuerst und so wächst ausgehend von den Rändern eine Art Dach über dem Lavastrom. Unterhalb des Daches bleibt der Strom aufrecht, bis der Vulkan keinen Nachschub mehr liefert und die Lava hangabwärts fließt und einen Hohlraum zurücklässt. Durch genau diesen Hohlraum, der nur von unseren Kopflampen erleuchtet wurde kletterten und wanderten wir hindurch.
Von der Decke tropfte es und wir mussten uns immer wieder unseren Weg über große Steine oder durch Pfützen bahnen. In der Mitte der Höhle bat mich Elijah die Kopflampe auszuschalten, damit wir die absolute Dunkelheit „sehen“ konnten. Wir schalteten die Lampen aus und blickten in die Schwärze. Es dauerte ein wenig, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten und die letzten Lichtflecken von meiner Netzhaut verschwanden, die der Lichtkegel meiner Kopflampe hinterlassen hatte. Wir warteten ein wenig und saßen einfach nur still auf dem gehärteten Lavaboden, bis wir schließlich die Kopflampen wieder einschalteten und weitergingen. Kurz vor dem Ende der Höhle gab es einen kleinen Einsturz, an dem das Tageslicht zum Vorschein kam. Hier waren die Wände der Lavaröhre mit Moos bedeckt und die Pflanzen an der Oberfläche wirkten, als wollten sie in die Höhle hineinwachsen.
Als wir das Ende der Höhle erreichten, kletterten wir über eine metallene Leiter nach draußen. Von hier aus wanderten wir durch den Wald zurück zum Parkplatz.
Wir fuhren einmal um den Vulkan herum zum Coldwater Lake, der durch die Eruption im Jahre 1980 entstanden war, denn wir hatten eine Camping permit für die heutige Nacht in der „Blastzone“. So wird der Bereich genannt, der besonders stark vom Ausbruch 1980 betroffen war.
Als wir den Trailhead erreichten regnete es noch immer und bisher hatten wir noch keinen einzigen Blick auf den Vulkan von außen erhaschen können. Wir packten unsere Rucksäcke und begannen mit unserer Wanderung entlang des Seeufers. Auch wenn die Vegetation in der Blastzone vor nur 40 Jahren massiv zurückgegangen war, war es hier heute erstaunlich grün. An der Nordseite des Coldwater lakes wanderten wir auf einem schmalen und ebenen Pfad durch Farne und viele weitere mir unbekannte Pflanzen. Hier und da überquerten wir einen kleinen Bach oder Wasserfall bis wir nach gut zwei Stunden schließlich eine große Brücke erreichten. Elijah machte ein Foto, denn als Civil Engineer hatte er viel Zeit mit Brückeninspektion verbracht und mochte scheinbar die Brücken besonders gerne, die am weitesten von der Zivilisation entfernt waren.
Nachdem wir den reißenden Bach überquert hatten, ging es nur noch bergauf bis zum Ridge Camp. Inzwischen waren wir beide komplett durchnässt, doch der Regen wollte einfach nicht aufhören. Noch dazu sah der Trail nicht gerade danach aus, als sei er „bereit“ um bewandert zu werden. Überall versperrten umgefallene Bäume und andere Hindernisse den Weg. Wir kletterten hinüber oder krabbelten auf allen Vieren unter ihnen hindurch. Immer wieder mussten wir Büsche und Sträucher zur Seite halten, um vorbeigehen zu können. Als ich schließlich Fußspuren tierischen Ursprungs erblickte, wurde ich unruhig und fragte Elijah, nach welchem Tier das für ihn aussah. Keiner von uns konnte bestimmen, um welches Tier es sich handelte, aber Elijah tippte zu meiner Erleichterung auf einen Herbivoren. Mit dieser Einschätzung gab ich mich vorerst zufrieden, doch gänzlich wollte meine Angst mich nicht verlassen.
Während der Wanderung sagte ich Elijah immer wieder, wie froh ich war nicht alleine hier draußen unterwegs zu sein und er nahm die Situation sehr viel gelassener als ich. Trotz des schlechten Wetters hatten wir viel Spaß und unterhielten uns miteinander während der gesamten Wanderung. Sonnenschein wäre zwar schön gewesen, aber der Regen konnte uns nicht die Laune verderben.
Je mehr wir an Höhe gewannen, desto mehr Schnee war zu sehen. In meinem Kopf hoffte ich einfach, dass das Ridge Camp schneefrei war, und wir keine Probleme haben würden, einen guten Platz zum Zelten zu finden. Schließlich gelangten wir eine Weggabelung, an welcher wir den Trail verließen und in Richtung Ridge Camp hinaufstiegen. Nach ein paar Schneefeldern bog der Trail nach rechts und wand sich an der Flanke des Berges hinauf bis zu einer großen Fläche, die verdächtig nach unserer Campsite aussah.
Als wir näher kamen erblickte ich ein einziges kleines rotes Zelt und war erleichtert, dass wir nicht die einzigen Verrückten hier draußen waren.
Elijah und ich schmiedeten Pläne, wie wir am besten das Zelt aufbauen und unser Equipment so trocken wie möglich halten konnten. Ich baute das Zelt auf und wir warfen alles, was trocken bleiben musste hinein: Schlafsäcke, Isomatten, Daunenjacken. Dann zog ich meine nasse Kleidung aus, kroch ins Zelt und schlüpfte in mein trockenes Schlafoutfit. Meine nasse Kleidung legte ich in die Ecke des Zeltes, doch mir war schon jetzt schmerzlich bewusst, dass sie bei dieser Luftfeuchtigkeit niemals trocknen würde. Als ich fertig war, tat Elijah es mir nach und zog seine trockene Kleidung an.
Draußen prasselte der Regen auf unser Zelt, doch hier drinnen war es trocken und im Schlafsack auch noch angenehm warm. Eigentlich wollten wir mit dem Gaskocher hier oben Abendessen kochen, doch keiner von uns verspürte das Bedürfnis das Zelt erneut zu verlassen und im Vestibül startet man aus Sicherheitsgründen bekanntlich keinen Gaskocher. Also gaben wir uns mit Tortilla Wraps, Hummus, Spinat und Schokolade als Dessert zufrieden. Irgendwie hatte es auch etwas ganz gemütliches hier drinnen zu sitzen während draußen der Regen tobte.
Nach dem Abendessen mussten wir leider doch noch einmal hinaus, um uns die Zähne zu putzen, und unsere Nahrung weit genug vom Zelt entfernt zu platzieren. Noch immer schüttete es wie aus Eimern und die Zahnputzung fiel signifikant kürzer aus, als sonst. Schnell liefen wir zurück zum Zelt und retteten uns in sein trockenes Inneres. Es war inzwischen dunkel geworden, also platzierte ich meine Kopflampe in der kleinen Tasche im Moskito Netz des Zeltes über unseren Köpfen, um es in unserem kleinen Heim ein wenig wohnlicher zu machen. Selbst in Schweden hatte ich noch nicht so viel Regen erlebt und meistens stoppte er zumindest für einen kurzen Zeitraum, doch hier hatte der Regen den ganzen Tag nicht aufgehört. Ich war immerhin froh, bei dieser neuen Erfahrung nicht ganz auf mich allein gestellt gewesen zu sein.
Elijah schlief früher ein als ich, denn der Wind, der an unserem Zelt rüttelte, wollte mich zunächst nicht einschlafen lassen und bildete ein bedrohliches Duett mit dem Prasseln der Regentropfen. Doch auch wenn es laut, kalt und nass war, fühlte ich mich in dieser Nacht sicherer hier draußen, als sonst.
Sonntag, 05. Juni 2022
Die Nacht war nicht besonders erholsam gewesen und noch immer regnete es in Strömen. Elijah und ich drückten uns sehr lange davor, das Zelt zu verlassen, in der Hoffnung, der Regen würde irgendwann nachlassen. Um 9:00 Uhr wurde er zumindest ein wenig leichter und ich nutzte die Chance um unsere Vorräte zu holen und Porridge zum Frühstück zu kochen. Als unser Frühstück gerade einmal lauwarm war, begann es erneut zu schütten, sodass wir die Zelttür wieder schließen und uns mit lauwarmem Porridge zufrieden geben mussten.
Nach dem Frühstück sammelten wir alles an Ausrüstung im Zelt zusammen und packten die Rucksacke so gut es ging im Vestibül. Nachdem ich meine Isomatte zusammengerollt hatte, musste ich feststellen, dass sie von unten nass war, doch immerhin mein Schlafsack war weitesgehend trocken geblieben. Unser Zelt stand auf der Plane in einer großen braunen Pfütze in der über Nacht meine Regenjacke geschwommen war und somit fast unbrauchbar wurde. Während ich alles einpackte und den Topf wusch trocknete Elijah meine Regenjacke mühsam mit dem einzigen und wenig saugstarken Mikrofaserhandtuch das wir dabei hatten. Wir schlüpften in unsere noch nassen Schuhe und begannen zu wandern. Die heutige Strecke war kürzer, als die gestrige und da sowieso schon alles nass war, machte uns der Regen auch nichts mehr aus.
Als wir das Auto erreichten, zogen wir unsere durchnässte Kleidung aus. Elijah hatte ein weiteres Shirt dabei, doch mein ultraleichtes Setup gab leider nichts mehr her, also wickelte ich mich in meinen Schlafsack und setzte mich auf den Beifahrersitz.
Am Abend erreichte ich die Farm, müde und erschöpft von unserem kleinen Abenteuer, aber auch sehr zufrieden. Elijah war eine gute Begleitung und wir beschlossen noch auf weitere Trips zu gehen in meinen restlichen drei Wochen in Washington.
Jun 14, 2022 10:36 am
Liebe Helena,das ist ja mal wieder ein echtes Potpurri an Erlebnissen!Unfassbar,da bersten ja die Tage beinahe. Vom Seilklettern zu lesen beunruhigt mich ja dann doch immer etwas…naja,ich lerne mich in meiner Besorgnis locker zu machen,schließlich sauge ich die Reise- und Erlebnisberichte immer auf wie ein Schwamm,so wird mein Alltag gleich mit aufregend.Wunderbar zu lesen wie Dinge,Verhaltensmuster und das Leben sich ändern.“Sachen einfach zu machen“ trifft den Nagel auf den Kopf,macht definitiv glücklich.Das mögliche Verpassen derselben doch eher blöd.Frisch voran also in deinen letzten Wochen!Ich war beim Lesen der St.Helens Tour gefühlt genauso nass wie ihr,es hat mich richtig gefröstelt….Natürlich vermisse ich dich hier auch und als Applausunterstützung bei Alex‘ erstem Triathlon wärst du auch wichtig gewesen.So haben wir erstmal allein Matthes und Alex beklatscht,aber vermutlich wird es zukünftig noch Gelegenheiten dafür geben.
Das Wissen darum,dass deine Reise in die ersehnte Bahn gekommen ist freut mich besonders,war doch der Start noch etwas schleppend.
Bin weiterhin mit maximaler Beigsterung mit dir unterwegs!Wie schön,dass du auf deinen Wegen adäquate Begleitung gefunden hast,gemeinsam zu erleben und zu teilen ist einfach klasse!
Tierspuren…..puh….jaaaaa….,man gut,dass du nicht allein bist!!!!