2. April 2022
Eigentlich hätte mich mein Wecker um 4:50 Uhr aus dem Schlaf klingeln sollen, doch die Aufregung über meine bevorstehenden Reise wollte mich einfach nicht tiefer schlafen lassen als ein wenig erholsames Nickerchen. Um meine Mitbewohner nicht zu wecken stellte ich den Wecker aus, noch bevor er die Chance hatte zu klingeln.
Meinen Rucksack hatte ich bereits am Tag zuvor gepackt, also war ich zumindest was das betrifft bereit aufzubrechen. Ich sammelte alles ein, was mich auf den nächsten 6 Monaten begleiten sollte, und ließ meinen Blick durch den leeren, fast steril wirkenden Raum schweifen, der in der Zwischenzeit ein Pärchen aus dem Saarland beherbergen würde.
Ich legte die Schlüssel auf den Schreibtisch, schritt durch die Tür, und ließ sie hinter mir ins Schloss fallen. Als ich das Haus verließ, stellte ich fest, dass die Luft kalt und klar war, wie in einer Winternacht. Ich trug einen übergroßen Fleecepullover und darunter eine Daunenjacke. Als ich meine Mitbewohnerin am Abend zuvor fragte, ob ich mein Fleece mit auf die Reise nehmen sollte, war ihre Antwort simpel: „Du trägst den doch jeden Tag, natürlich nimmst du ihn mit!“ Sie hatte recht. Es war mein Lieblingspullover, ein Relikt von dem, was ich nun hinter mir lassen würde und gleichzeitig vermittelte mir ein wohlig warmes Gefühl von Zuhause, während ich mich selbst 8600 km entfernt davon befinden würde. Das ist mehr als der Durchmesser unserer Erde. Und außerdem, wo ist eigentlich Zuhause?
Ich füllte ich meine Lungen mit der kühlen, klaren Luft während ich zum Bahnhof ging, von wo ich einen Zug zum Flughafen nehmen würde. Die sonst so laute und belebte Stadt Wien wirkte ruhig und zufrieden, als würde sie die frühen Morgenstunden genau so genießen wie ich.
Als ich den Flughafen erreichte, gab ich mein Gepäck beim Selbst-Check-in auf und marschierte direkt zur Sicherheitskontrolle. Zu meiner Überraschung wurde nicht ich durchsucht, sondern meine Tasche. In ihr befand sich ein scheinbar höchstgefährliches, etwas zu flüssiges Linsen Curry, dass ich mir zuvor gekocht und auf die Reise mitgenommen hatte, um nicht viel Geld für Verpflegung am Flughafen ausgeben zu müssen. Ich überredete das Personal, dass ich dieses Curry brauchte und es ungefährlich sei, und sie entschieden sich schließlich, uns nicht voneinander zu trennen.
Anschließend suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen und begann zu lesen, während ich auf das Boarding wartete. Ich hatte mich entschieden „Walden, oder Leben in den Wäldern“ von Henry David Thoreau ein zweites Mal zu lesen, nachdem ich das Gefühl hatte, vieles davon wieder vergessen zu haben und weil ich dachte, es würde thematisch gerade sehr gut passen.
Die Zeit flog förmlich an mir vorbei und ich fand mich kurz darauf an Bord des Flugzeugs nach Frankfurt wieder. Da ich höchst ungern per Flugzeug fliege, wurde meine Reise von einer unangenehmen Nervosität und Unruhe begleitet. Als der metallene Vogel sich schließlich in die Luft erhob, schossen mir Tränen in die Augen. Mir wurde bewusst, dass ich nun für ein halbes Jahr alles Bekannte hinter mir lassen würde und erneut aufbrechen würde in etwas, von dem ich eigentlich gar nicht wusste, wie es sein wird. Ich würde um die halbe Welt fliegen, um 3 Monate auf einer Farm zu leben, über Permakultur und Regenerative Landwirtschaft lernen und die Natur erkunden. Auch wenn ich Wien noch nicht für lange meine Zuhause genannt hatte, war es dennoch der Ort, an dem sich in den letzten 7 Monaten der wichtigste Teil meines Lebens abgespielt hatte. Doch innerlich sehnte ich mich nach etwas anderem. Nach etwas Einfacherem, nach mehr Abenteuer, nach einer pureren Erfahrung des Lebens. Ich wollte wieder von der Natur umgeben sein, von den einsamen Gipfeln und den magischen Wäldern die unsere Erde beheimatet. Ich suchte nach einem sensorischen und psychologischen Rückzug von einem manchmal unerträglich stressigen Leben. Ich wollte über medizinische Kräuter lernen, den Pflanzen beim wachsen zusehen und den ganzen Tag draußen sein. Ich wollte die Erde mit meinen Händen spüren, das kalte Wasser und den Wind. Ich wollte am Ende des Tages zurückschauen können auf das, was ich heute geschafft hatte.
Außerdem machte ich mich auf die Suche nach der Antwort auf eine Frage, die uns alle beschäftigt: worum es uns persönlich geht in unserem Leben. Ich glaube dass mein psychisches und körperliches Wohlergehen eine simplere Art zu leben verlangt, eine tiefere Verbindung zur Natur, die wohltuend ist auf eine Art, die wir erst erkennen sobald wir davon gekostet haben.
Der erste Flug war relativ kurz und bevor ich weiter nach Seattle fliegen würde, hatte ich einen 3 stündigen Aufenthalt in Frankfurt. Dieser kam mir jedoch wesentlich kürzer vor, da ich meinen neuen Boarding pass holen, und in Erfahrung bringen musste, ob ich mein Gepäck abholen und neu aufgeben müsste. Zum Glück, wurde es direkt zum Ziel Flughafen transportiert, also spazierte ich zu meinem Gate und verspeiste mein gerettetes Linsen Curry.
Schließlich reihte ich mich gut anderthalb Stunden vor Abflug in eine lange Schlange von Menschen ein, die darauf warteten ihre COVID-19 Dokumente zu präsentieren und an Bord des Flugzeug gehen zu können. Das Flughafen Personal brauchte ewig um die besagten Dokumente aller Passagiere zu überprüfen und ich hatte zur geplanten Abflugszeit nicht einmal einen Fuß in die Maschine gesetzt. Somit verließen wir Frankfurt mit einer Verspätung von ungefähr einer Stunde, doch der Pilot verkündete uns in einer Durchsage, dass er etwas mehr Kerosin getankt hatte, um diesen Verlust wieder aufzuholen. Der Flug war lang und und ich hörte Musik, las ein wenig in meinem Buch und fiel irgendwann schließlich in einen leichten Schlaf.
Als ich aufwachte flohen wir gerade über Grönland und ich konnte meinen Augen kaum trauen: durch das kleine Fenster sah ich die majestätischen unter Schnee begrabenen Gipfel, die sich zu einem endlos erscheinenden weißen Wunderland vereinigten.
Da wir gegen die Erdrotation flogen, starteten wir in Frankfurt bei Tageslicht und erreichten Seattle 10 Stunden später noch immer bei Tageslicht. Es war ein seltsames Gefühl, doch ich war froh, nicht in der Dunkelheit zu meinem AirBnB gelangen zu müssen.
Direkt nach der Landung mussten alle Reisenden die Customs and Border Protection passieren, um sicherzugehen, dass wir keine Illegalen Güter in die USA importierten. Außerdem wurden unsere Fingerabdrücke und unsere ESTA oder Visa Bestätigungen kontrolliert.
Ich musste leider all meine Lebensmittel wegwerfen, die nach dem Flug noch in meinem Rucksack verblieben waren. Traurig beobachtete ich Schokoriegel, Trockenfrüchte und Cashewkerne in die Mülltonne wandern. Wenn ich gewusst hätte, dass sie so ihr Ende finden würden, hätte ich sie gar nicht eingepackt.
Als ich schließlich dran war mit dem CBP Officer zu sprechen, war ich sehr nervös und beichtete, dass sich noch ein halb volles Glas Cashewmus in meinem Aufgabegepäck befand, doch zu meiner Erleichterung schien es ihn nicht großartig zu stören. Er fragte mich stattdessen viele sehr konkrete Fragen: wie viel Geld ich hatte, was mein Job sei, wo ich mich aufhalten würde, während ich in den USA sein würde. Ich hab ihm einen sehr groben Überblick über meine Pläne und erklärte, dass ich meinen Job erst vor 2 Wochen gekündigt hatte und mit einem Seufzen winkte er mich durch „Ich wünschte ich könnte einfach kündigen und wandern gehen…“.
Schließlich holte ich meinen Rucksack vom Gepäckband und verließ den Flughafen. Nun musste ich zu meinem AirBnB gelangen, welches ca 12 km entfernt lag. Zu Fuß gehen erschien mir als die am wenigsten attraktive Möglichkeit, also beschloss ich mit dem Zug und einem Bus zu fahren. Ein Taxi hätte zwar nur ein Viertel der Zeit benötigt, kostete jedoch auch 45$ und das war es mir definitiv nicht wert. Einige ungünstige Umstände verlängerten meine Reisezeit zusätzlich, als meine Kreditkarte abgelehnt wurde von dem einzigen Geldautomaten in der Umgebung. Schließlich fand ich allerdings eine McDonalds Filiale mit Gratis WLAN und konnte eine App Downloaden, die das Kaufen von Tickets per Kreditkarte am Handy unterstützte. Jetzt war es Zeit um auf den nächsten Bus zu warten, nachdem ich schon 2 von ihnen verpasst hatte.
Ungefähr eine Stunde Busfahrt und einen kurzen Spaziergang später erreichte ich das AirBnB im Südwesten von Seattle. Mein kleines Zimmer wurde fast komplett von einem großen Doppelbett ausgefüllt, welches sehr einladend wirkte nach der langen Reise. Leider war ich nicht müde, also begann ich meine Sachen auszupacken, Nachrichten zu beantworten und ein wenig zu lesen bis ich dann schließlich doch einschlief.
03. April 2022
Als ich aufwachte war ich sicher es sei schon morgens, denn ich fühlte mich fit und bereit die Stadt zu erkunden. Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass es gerade einmal 1:30 Uhr mitten in der Nacht war. Ich hatte nur vier Stunden geschlafen, doch ich fühlte mich so energiegeladen, dass nicht der Hauch einer Chance bestand, wieder schlafen zu gehen. Außerdem hatte ich seit Stunden nichts gegessen und das Knurren meines Magens war nicht zu überhören. Da ich mich von meinem ganzen Proviant verabschieden musste, bestanden meine ersten zwei Mahlzeiten aus Cashewmus, welches ich direkt aus dem Glas löffelte.
Um 2:00 Uhr morgens hörte ich stimmen vor meiner Tür. Ich trat hinaus und sah 2 junge Männer im Flur stehen und sich unterhalten. Einer von ihnen war aus Pakistan und der andere aus Indien. Sie beide studierten hier in Washington und waren gerade zu Besuch in Seattle. Wir unterhielten uns für ein paar Stunden über das Wandern und der Pakistanische junge Mann namens Vincent erzähle mir von seiner Besteigung des Mt.Rainier in Washington, einer der schönsten Berge in der Umgebung. Kurz bevor die Sonne aufging gingen die beiden in ihr Zimmer und ich machte mich fertig, um die Stadt zu erkunden. Ich nahm einen Bus in Richtung Downtown und begann auf eigene Faust herum zu spazieren. Ich liebe es auf diese Weise Städte zu erkunden, anstatt von einer Attraktion zur nächsten zu eilen.
Obwohl Seattle eine große Stadt, und vor allem die größte in Washington ist, sah ich nicht viele Menschen auf den Straßen. Als ich ein paar Nebenstraßen hinunter spazierte fand ich einen kleinen Coffeeshop und holte mit einen Coffee to-Go. Anschließend ging ich in ein Lebensmittelgeschäft und versorgte mich mit Nahrung, um nicht weiterhin von einem Glas Cashewmus leben zu müssen. Nun ging es für mich zu einem der größten Outdoor Geschäfte in Washington. REI (Recreational Equipment Inc) ist ein wahres Paradies für alle Outdoor Enthusiasten auf diesem Planeten. Ich kaufte mir ein neues Paar meiner geliebten La Sportiva Trail running Schuhe, die sich schon auf dem SMT bewährt hatten. Der REI Store war liebevoll designed, sowohl innen, als auch außen. Im inneren gab es mehrere Stockwerke, auf denen sich alles mögliche befand, was das Sportler Herz begehrt: Überall waren Zelte aufgebaut, man konnte Schlafsäcke ausprobieren, Rucksäcke, Schuhe, Fahrräder, Kanus, Wasserfilter… Draußen gab es einen Wald, Wasserfälle und einen Picknick Bereich. Außerdem konnte man hier Schuhe und Fahrräder testen. Hier gab es so viel zu sehen, dass ich beschloss, einmal wieder zu kommen bevor ich zurück nach Europa fliegen würde.
Nachdem meine Shoppingtour beendet war, besorgte ich mir noch eine amerikanische SIM Karte, um vor allem auf meinen Wanderungen erreichbar zu sein und Zugang zum Internet zu haben. Anschließend schaute ich mir die „Space Needle“ an, ein riesiger Aussichtsturm und die wohl bekannteste Attraktion Seattles. Dann beschloss ich, das Seattle Museum of Art zu besichtigen. Hier war Kunst aus vielen unterschiedlichen Kulturen ausgestellt, so wie native artwork (Ureinwohner Nordamerikas), japanische, chinesische, afrikanische, islamische und auch europäische Kunst. Zusätzlich dazu gab es eine Sonderausstellung mit dem Namen „Our Blue Planet: global visions of water“ in der Wissenschaftler, Künstler und Lehrer auf verschiedensten Wegen die Wichtigkeit von Wasser und seine Rolle in verschiedenen Kulturen deutlich machten.
Nach meiner Erkundung der Innenstadt von Seattle wollte ich noch den chinesischen Garten besuchen, jedoch war ich plötzlich so müde, dass ich beschloss erst einmal heim zu fahren, einen (Nach-)Mittagsschlaf zu halten und dann meine Besichtigungen fortzusetzen. Aus meinem Schläfchen wurde allerdings ein tiefer Schlaf und den chinesischen Garten konnte ich leider nicht mehr besichtigen.
04. April 2022
Erneut wurde ich um 1:00 Uhr nachts wach und konnte nicht weiterschlafen. Ich stand auf, nahm eine warme Dusche, dehnte meine Muskeln, die noch immer strapaziert vom vielen Sitzen auf der langen Anreise waren und kochte mir Porridge am Herd in der Küche. Anschließend begann ich zu lesen bis die Sonne aufging.
Um 9:15 Uhr fuhr unser Bus von Seattle nach Wenatchee, einer etwas kleineren Stadt weiter im Osten und tiefer in Washington State. Nach ungefähr einer Stunde erreichten wir die eindrucksvollen North Cascades, eine Gebirgskette, die sich vor allem durch ihre schroffen Gipfel, unberührte Wildnis und eine Vielzahl an Gletschern und alpinen Seen auszeichnet. Der PCT durchquert übrigens auch die North Cascades in Süd-Nord Richtung bis nach Canada.
Während wir immer mehr an Höhe gewannen als sich der Bus die Pässe hinauf kämpfte, betrachtete ich die schneebedeckten Gipfel, welche teilweise in dichten Wolken verschwanden und um uns herum in den Himmel ragten. Gerade als der Bus auf Stevens Pass stoppte, begann es heftig zu schneien und sehr bald fanden wir uns in einem Schneesturm wieder. Der Bus kämpfte sich mit nicht mehr als 20 km/h durch das Schneegestöber und der Schnee an den Rändern des Highway war mindestens hüfthoch.
Der Busfahrer fuhr plötzlich rechts heran und stieg aus. Ich hatte Angst, er würde uns nun mitteilen, er könne aufgrund des Wetters leider nicht weiterfahren, aber glücklicherweise legte er nur Schneeketten an und fuhr weiter. Während der gesamten Fahrt absorbierte ich die atemberaubende Szenerie: erst die saftig grünen Wälder, dann die schroffen Berge und schließlich den wütenden Schneesturm. Sobald wir uns wieder auf einer niedrigeren Höhenlage befanden, ließ der Schneesturm nach, der Schneemantel auf den Bergspitzen wurde dünner aber sie beheimateten auch weniger Vegetation und die Umgebung wirkte weniger lebendig. Je näher wir nach Wenatchee kamen, desto trockener und „leerer“ wirkten die Berghänge ohne den dichten Nadelwald.
Wenatchee selbst war meiner Meinung nach keine besonders schöne Stadt – oder es war nicht die richtige Jahreszeit. Die Umgebung hatte mehr von einer Wüste, es gab ohne Ende Drive-ins und Restaurants, Kfz Mechaniker und seltsamerweise auch Zahnärzte.
Ich wanderte ca 7,5 km zu meinem AirBnB, das am anderen Ende der Stadt gelegen war. Als ich dort ankam begann es zu regnen, also verwarf ich mein Vorhaben eines abendlichen Spaziergangs schnell wieder und legte mich aufs Bett um zu lesen. Um ca 18:00 wurde ich wieder so müde, dass ich beschloss heute einen Kaffee zu trinken und damit vielleicht mein Jetlag bekämpfen zu können. Mein Plan funktionierte leider nicht ganz so wie gedacht, und das Koffein konnte mich auch nicht wach machen, also schlief ich ein.
05. April 2022
Um 0:30 wachte ich auf. Mein Rhythmus verschob sich scheinbar immer mehr anstatt dass er sich an die neue Zeitzone anpasste. Der Jetlag nervte mich, aber ich konnte nicht viel tun, also las ich, dehnte mich ein bisschen, machte mir etwas zu essen und schließlich schaute ich eine Dokumentation, um die Zeit totzuschlagen bis die Sonne aufgehen würde.
Um 6:00 verließ ich endlich mein Zimmer und machte mich auf den Weg zurück zum Zentrum der Stadt und zum Columbia River. Da meine Unterkunft auf einem Hügel gelegen war, konnte ich von hier aus die ganze Stadt und die Berge im Hintergrund überblicken. Während ich die Straße hinunter wanderte, eröffneten sich mir atemberaubende Blicke auf die verschneiten Bergspitzen, die in ein rosarotes Licht der aufgehenden Sonne getaucht waren.
In Wenatchee gab es einen Wanderweg mit dem Namen „Apple Capitol Loop Trail“ entlang des Columbia River, also entschloss ich, einen Teil davon zu wandern, denn ich hatte noch viel Zeit bis Seth und Katie mich abholen würden und außerdem war das Wetter an diesem Tag einfach traumhaft.
Der Wanderweg durchquerte viele kleine Parks und Naturschutzgebiete und war erstaunlich grün! Ich fand ein kleines Stückchen Wald direkt am Ufer und beschloss hier zu rasten und etwas zu lesen, während ich mich in der Sonne wärmte. Ich lauschte dem Rauschen des Flusses neben und dem Gesang der Vögel über mir, der um diese Zeit des Jahres besonders laut und lebendig war.
Nach der Pause wanderte ich weiter, bis ich schließlich einen Campingplatz erreichte. Hier konnte ich meine Wasserflasche auffüllen und machte mir etwas zu essen, dann wartete ich auf Seth und Katie.
Um 15:00 erreichten die beiden den Parkplatz. Seit Wochen war ich nervös vor diesem Moment, denn sowohl Begrüßungen, als auch Verabschiedungen überforderten meine sozialen Kompetenzen und selten wusste ich, wie ich mich zu verhalten hatte. Zum Glück nahm Seth das selbst in die Hand und empfang mich mit einem breiten, herzerwämenden Lächeln und umarmte mich. Ich schmiss meinen Rucksack in den Kofferraum und stieg ins Auto um die anderen zu begrüßen. Seth, Katie, Isaac und Elise kamen gerade aus dem Urlaub zurück und nahmen mich nun mit zur Farm. Von Wenatchee war es circa eine Stunde Fahrt entlang des Columbia River und Lake Chelan. Der tiefblaue See ist 60 Meilen (ca 90 km lang) und schlängelt sich durch ein eindrucksvolles Tal. Die Farm von Seth und Katie lag am Südufer, und gegenüber an der Nordseite befand sich eine weitere Farm, der Stehekin Garden. Hier würde eine Freundin von mir ab Juni arbeiten, die 2019 den PCT gewandert ist. Wir haben uns über das Internet kennengelernt und sind seitdem in Kontakt geblieben. Vivian war überhaupt meine größte Inspiration auf einer Farm zu arbeiten! Die Empfehlung für Seth und Katies Farm kam von ihr, denn sie hatte 2020 hier gearbeitet. Wir hatten bereits Pläne geschmiedet, im Sommer gemeinsam wandern zu gehen und ich würde auf jeden Fall auch ihre Farm besuchen, welche man mit einer Fähre und einer Wanderung am Ufer entlang erreichen konnte. Das interessante ist, dass obwohl der Stehekin Garden und die Wildnow Farm (hier bin ich) am gleichen See liegen, befinden sie sich in komplett unterschiedlichen Ökosystemen: bei uns ist das Klima trockener und wärmer, während in Stehekin weitaus mehr Niederschlag fällt und das Klima feuchter und milder ist. Nebenbei ist Stehekin auch eine der schönsten Trail towns entlang des PCT, also konnte ich es kaum erwarten, Vivian zu besuchen!
Als wir die Farm erreichten, führte Seth mich ein wenig herum und ich lernte die andere Praktikantin Kennedy kennen (ich bin offiziell ja gar keine Praktikantin). Die Farm besteht aus drei großen Feldern. Eines für Gemüse, eines für medizinische Kräuter und eines alles mögliche durcheinander. Dazu gibt es noch 2 Gewächshäuser, ein großes in dem Seth die Setzlinge heranzieht und Salat sowie Grünkohl angebaut wird,, und ein kleines, das voll ist mit Setzlingen, die darauf warten, umgetopft und endlich in die Erde gepflanzt zu werden. Außerdem gibt es Obstbäume, jede Menge Blumen und Gartenkräuter!
Die Grenze der Farm erstreckt sich bis hinunter zum See und auf der anderen Seite sind wir von den Bergen umgeben, die zwar nicht so grün und vegetationsreich sind wie in Österreich, aber sie sind einzigartig auf eine ganz andere Weise. Da es kürzlich noch geschneit hatte, wird es noch sehr viel grüner werden, als es das jetzt gerade ist, aber der Frühling steht quasi schon vor der Tür.
Neben Seth’s Familie und Kennedy und mir leben übrigens noch zwei schwarze Katzen namens Curly und Larry, sowie 2 Hunde namens Dio und Cyrus auf der Farm.
Kennedy und ich werden in einem Wohnwagen leben, doch da gerade auch noch Rae auf der Farm ist, die auf alles aufgepasst hatte während Seth und Katie im Urlaub waren, übernachte ich zunächst einmal auf dem Dachboden. Hier habe ich eine riesige Couch und daneben große Fenster, durch die ich wenn morgens die Sonne aufgeht, bis zum See hinunter schauen kann. Ich brachte schnell meinen Rucksack in mein neues Heim und lief gleich wieder hinaus um Kennedy auf der Farm zu helfen. Wir jäteten mit der Hand das Unkraut im Spargel Beet. Da hier keine Herbizide oder andere Chemikalien verwendet werden, hat die Natur freien Lauf, aber hier und da muss doch einmal eingegriffen werden. Wenn das Unkraut zu hoch und vom Wind umgeworfen wird, beeinflusst es das Wachstum der Nutzpflanzen negativ. Also muss mindestens einmal im Jahr alles herausgerupft werden, was nicht hier hin gehört. Für ein paar Stunden rupften wir also Gräser und anderes Unkraut aus dem Boden und unterhielten uns währenddessen. Als der Abend hereinbrach gingen wir ins Haus, um zu Abend zu essen. Wir haben eine eigene sehr gut ausgestattete Küche, die später auch zum Mittelpunkt unseres gemeinsamen Farmlebens werden sollte. Rae war schon hier und da sie es liebte zu kochen, bereitete sie ein wahnsinnig gutes Abendessen für uns! Es gab sautierten Spargel und Grünkohl aus dem Garten und dazu Kürbis Püree mit Zimt! Es schmeckte unglaublich gut, und dabei dachte ich immer, ich möge gar keinen Grünkohl.
Wir unterhielten uns noch ein wenig, doch ich war so müde, dass ich um 21:00 Uhr ins Bett fiel und schlief wie ein Stein.
Apr 10, 2022 10:59 pm
Ich kann den Officer gut verstehen, der gerne seinen Job an den Nagel hängen würde, um durch die Welt zu reisen und um zwischendurch auf einer Farm mit netten Leuten mitten im wunderschönen Nirgendwo zu arbeiten und dann weiter zu ziehen auf der Suche nach neuen Horizonten.
Freue mich bereits auf die Fortsetzung!